Gerald Nestler

 

GANZRAUM

Der Ort als Objekt der Belichtung

Zu den architektonischen Eingriffen von Martin Vesely am Kunstraum Bernsteiner, Wien 2.

 

The act of art has turned to a direct examination of our perceptual processes.
Robert Irwin1

 

Martin Vesely ist Fotograf. Er arbeitet am Blick als einer Struktur der Dauer. In diesem scheinbaren Widerspruch liegt ein intensives negentropisches Bemühen, dem er sich widmet. Dies gilt im Besonderen für 8 x 10 zum Verhältnis sich Vergleichend, einem Kunst am Bau-Projekt für den Kunstraum Bernsteiner in Wien, das mit Fotografie auf den ersten Blick nichts zu tun hat. Es handelt sich um den Entwurf und die Realisierung der Fenster und Türen in einem Baukörper mit frühindustrieller Anmutung, die sowohl der Auftraggeber als auch der Künstler weder verleugnen noch einfach reproduzieren wollten. Die Öffnungen, die Vesely einfügt, bilden also nicht ab, sie sind eigenständige Arbeiten. Sie spielen zwar mit der Idee des Historischen, des Vorhandenen, bleiben jedoch keineswegs dabei stehen. Sie erweitern sensibel und konzentriert das Gefüge jener Struktur, die wir vor Ort vorfinden – ein adäquater Ansatz für einen Raum zeitgenössischer Kunst, der sich mehr als Potential des Experiments und der Positionierung definiert, denn als Marktplatz. Somit erzählt die dem Besucher Zutritt erlaubende erste Arbeit für den von seiner Lage her neuen, konzeptionell jedoch ausgesprochen erprobten Kunstraum Bernsteiner eine konstitutive Geschichte, die über Ort und Situation hinausgeht.

 

Während wir nun den Raum durch die Intervention Veselys betreten, schreiten wir in Wirklichkeit – wir sprechen hier über einen Ort der Kunst und damit von einer Wirklichkeit, die sich im Virtuellen und Kontingenten verortet – durch Fotografie. Wir bewegen uns durch ein Medium, das seit seiner Erfindung Realität als materielle Gegebenheit hinterfragt, reflektiert und verarbeitet. Wir werden Teil einer Konstruktion, die der Künstler dem Gebäude einschreibt, auch weil sie in ihm angelegt ist. Historisch gesehen, haben der reale Raum in der Schiffamtsgasse und der fotografische Raum ihre Anfänge zu einer etwa ähnlichen Zeit genommen. Zur Eröffnung des Kunstraum Bernsteiner kommen sie erstmals in äusserst konkreter Weise miteinander in Kontakt, ohne sich wirklich zu berühren, das heisst, ohne dass das Gebäude fotografiert würde – obwohl es belichtet wird: Das Gebäude, in dem der Kunstraum untergebracht ist, wird nämlich der fotografischen Methode Veselys unterworfen, es wird in seiner Vorstellung zum Koordinatensystem. Die Fenster und Türen sind keine Teile, die für sich stehen, sie sind Kontexte in einem Gefüge. Was ihnen Halt gibt und dennoch über sie hinausweist, ist das Raster, das Vesely dem Gefüge einschreibt, über das er den Raum und seine Arbeit definiert, mit dem er das Bild seines Blicks entwickelt. Dieses Raster besteht aus Vektoren, die sich in das Koordinatennetz einfügen und damit dauerhaft werden. Sie schaffen eine Ebene des Vergleichs, der Dimensionierung: Der Raum, der zuerst eine Fläche ist, fällt auf, tritt ins Bewusstsein, kann reflektiert—und damit gesehen werden—als Sehen eines Anderen, Sehen als Differenz.

 

Von der Fotografie kommend, begann sich Vesely zunehmend mit Objekten auseinander zu setzen, um seinen Blick von aussen auf die Fotografie lenken, die Wahrnehmung selbst zum Thema machen zu können. Das Objekt erlaubt ihm eine Distanzierung, um seiner Beschäftigung nachzugehen: Die Totale im Verhältnis zum Ausschnitt im Sinne einer Rasterung des visuellen Feldes zu untersuchen. Er verwandelt dabei den fotografischen Raum in ein Objekt, in dem alle Ebenen in eine klappen und sich letztendlich auf eine Fläche schmiegen. Er zieht seine Spuren durch den fotografischen Raum, forscht den Relationen nach, um sie dann mit dem Druck auf den Auslöser in ein raumimmanentes "Relief" zu verwandeln. Dieses Relief entspricht einem Raster, das ihm beim Fotografieren als Stütze dient und das im Verhältnis zum Format steht, welches meist eine Grösse von 8 x 10 inch einnimmt.

 

Hier vor Ort, im Raster des Gebäudes, das den Fenster- und Türkonstruktionen real gleich wie ideel zugrunde liegt, sehen wir – in einer interessanten Parallele zu Niklas Luhmanns "dreistelligem Selektionsprozess" der Kommunikation (Information, Mitteilung und Verstehen) – eine Separation vor uns, die den Fensterstock, den Tür- bzw. den Fensterrahmen vom Raster trennt. Der Stock definiert die Fläche der Fenster; der Rahmen ergibt sich aus der Funktion; das Raster ist an eine an sich beliebigen Koordinate gesetzt und entwickelt seine Eigenständigkeit von diesem Punkt aus. Dieser Nullpunkt der Konstruktion ist an die vordere Türe gesetzt und definiert das erste formierende Segment im Verhältnis 8 x 10.

Martin Vesely modernisiert das vormoderne Gebäude, bringt es unter einen koordinierten Kontrollblick. Man bemerkt, der "White Cube" ist nicht nur eine Frage der Beherrschung, der Optimierung des Innenraums. Er geht durch die Wände, "klärt" unsere Beziehungen, sodass wir sie kaum noch wahrnehmen. Als gerahmte Raumkonfiguration spiegelt er das Raster, in dem wir selbst kontrolliert sind. Sein Koordinatensystem übt jedoch keine Definitionsmacht aus, es ist ein Netz, das auffängt, nicht aussiebt und dabei kleine Elemente zum Vorschein bringt. Es bricht die Vorstellung von einem klaren Muster, wie sie nicht nur die industrielle Architektur der Moderne beherrscht.

 

Vesely geht einen Schritt weiter, fügt der klaren Setzung Türstock – Türrahmen – Raster einen Zufallsfaktor hinzu. Das moderne Gefüge gerät in Schwingung, verliert die Kontrolle über den Raum, den Blick und den Ort. Wir sind im Nahbereich einer Kybernetik zweiter Ordnung, in der eine objektive Realität durch die Beobachtung der Beobachtung ersetzt wird. Oder mit den Worten Peter Sloterdijks, die Helmut Willke in seinem Buch Atopia zitiert: "Während die einen, wie durch ein Verzögerungswunder, noch an ein objektives, ordnendes Sein glauben können, haben die anderen schon begonnen, zu verstehen, dass sie zu eigenen Konstruktionen von Ordnungen verdammt sind".2 Dabei ist Zufall brauchbar – und Martin Vesely fügt ihn in seine Struktur in Form der Formate Kleinbild und Quadrat ein – er bringt Variation und öffnet damit den Horizont der Möglichkeiten, der Optionen, die hier jedoch eine bewusst dauerhafte Qualität anstreben. Wir befinden uns in in der Programmatik eines Systems, in dem wir Ordnungen binden, indem wir Beziehungen und Verbindungen setzen, um Realität zu konstruieren.

 

Wenn das Objekt selbst keine Fotografie im Sinne des Wortes ist, dann nur deshalb, weil es keinen Moment der Belichtung gab, dieser sich nicht aufdrängte, keine Notwendigkeit fand. Jene Form der "Belichtung", die aber stattfand (und in der im selben Moment auch das Bild entwickelt wird), war die Schweissarbeit, in der sich, wie Alois Bersteiner anerkennend bemerkt, Martin Vesely einen neuen Beruf erarbeitete. Ein anderer Beruf der Belichtung, der Schichtungen, der Segmente, der Sedimente, der Geschichte: Schweissen ist im Vergleich zur Fotografie ein niedrig energetisches Verfahren, das die Verschmelzung der Segmente durch Wärme anstatt Licht erreicht. In beiden Verfahren werden unauflösbare Verbindungen geschaffen. In beiden "Medien" hat Vesely eine Blende zwischen sich und dem Objekt. Sie schafft, trotz seiner Involviertheit in den Prozess, jene Distanz, die für Vesely essentiell ist, ihm erst die Möglichkeit des Vergleichens von Strukturen, Ausschnitten, Formaten, Serien gibt.

 

Man könnte diese Strategie eine künstlich erzeugte Risikoarchitektur zur Ergründung fotografischer Verhältnisse und Wahrnehmungsweisen im Phantasma des Raums nennen, in der sich der Künstler ein imaginäres Netz geschaffen hat, durch das die Prozesse des Abwägens, Prüfens, Kontrollierens gefasst werden und in dem in intimer Weise Distanz von Nähe entsteht. Der Künstler ist nicht allein Handelnder, hier ist nicht von Mechanismen der Kontrolle die Rede, die er dem Prozess aufoktroyiert: Vesely kennt das Gefühl, dass das Motiv ihn ansieht, ihn überprüft – nicht umgekehrt. Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass ihn dieser Eindruck auch beim "Ablichten" der Fenster begleitete, die Fenster aus der Distanz zu Kontexten wurden und der Raum als Bild auf die Ebene des Gebäudes geschweisst wurde.

 

Martin Vesely schreibt in seinem Text Ein Gebilde über "ein stratifiziertes Ganzes, [...] zusammengesetzt aus mehreren Teilen/Segmenten, die jeweils ein eigenes Volumen, eine eigene Dimension mit einer relativen Grenze besitzen. Diese Felder stehen in einem bestimmten (Distanz)-Verhältnis zueinander, nicht ausschliesslich für sich isoliert, sondern eher als Menge mit Zahl in einer Reihe, sich jeweils in einem Intervall mit einem dazugehörigen Grenzwert befindend. Distanzen und ihre jeweiligen Linienbrennpunkte zeigen wie die Grössen aufeinander wirken, sich vielleicht sogar durchdringen." Die Fotografie als Ereignis setzt den Raum als Gebilde eines Moments scheinbar fest, sie koordiniert einen in Schwingung betroffenen Verlauf. Sie potenziert den Raum, indem sie die Wurzel aus seiner Extension zieht, die sich über die Dimension Zeit definiert. Die Tore und Fenster formieren den Ort grundsätzlich, sie sind ein Statement, mit dem Vesely den Kanal "Dauer" im Feld der Programmoptionen der Kunst und des Kunstraums belegt.

Dieses stratifizierte Ganze, seine Segmente und Grenzwerte könnte man in eine Lesart münden lassen, die durch die Terminologie der Biologie gespielt wird: Stratifikation ist darin jener künstlich erzeugte Prozess, der einen Keim aus dem Zustand der Samenruhe "weckt" und ihn somit in sein Potential versetzt, aufzugehen, sich zu entwickeln. Der Riss, der über den Grenzwert einer reproduktiven Wiederholung hinweg hebt, und den Vesely der festen Struktur der Architektur als Muster einschreibt, erlaubt eine Durchschreitung, eine Transgression, welche die auf der örtlichen Ebene verschweissten Raumkoordinaten hinsichtlich ihrer Wahrnehmungspotentiale öffnet. Er weckt sie aus ihrer Dormanz, lässt Optionen "keimen", die jenseits des im Koordinatensystem eingebetteten Subjekts liegen. Sie belichten in ihren Fliessgeschwindigkeiten eine Zukunft, die andere Muster und vor allem andere Konstruktionen von Mustern entwickeln wird.

Die prinzipielle Möglichkeit solcher Konstruktionen ist dem Kunstraum als Reservoir eingeschrieben, er ist selbst von Anfang an eine solche. In Zukunft werden auf und aus diesem "Grund" vielfältige Optionen, Setzungen und Vorstellungen realisiert und diskutiert werden. Dies leitet schliesslich noch zum Auftraggeber der Arbeit, den Kunstsammler Alois Bersteiner über. KünstlerInnen benötigen Partner, die ein Interesse haben, Möglichkeiten der Wahrnehmung auszuschöpfen und diesen Weg konsequent zu verfolgen. Oder, um Anfang und Ende zu verbinden, in den Worten Robert Irwins aus dem Jahr 1971:

 

Perhaps the future role of the artist will be to act directly as the arbiter of qualities in our lives.
Quality not as an add-on, as it is now, but as criteria in all matters of planning.3

 

Fussnoten:

1 Robert Irwin, "Reshaping the Shape of Things, Part 2," in: Arts 47, no. 1 (September-October 1972), S. 30
2 Peter Sloterdijk, in: Helmut Willke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, 2001, S. 177
3 Robert Irwin, aus einem Interview von Frederick S. Wight,
   in: Transparency, Reflection, Light, Space: Four Artists, 1971, S. 88.